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Fantasie und schwarzer Humor ohne Altersgrenze

VON ALEXANDER WISCHNEWSKI.

Für eine der erfolgreichsten deutschen Krimiautorinnen sind 21 Jahre Schaffensperiode eigentlich eine recht knappe Zeitspanne. Mit erst 55 Jahren veröffentlichte die in Shanghai geborene und im chinesischen Nanking aufgewachsene Tochter eines Arztes ihren ersten Roman „Der Hahn ist tot“. Bereits als Kind hatte sie kleine Geschichten geschrieben, die sie später aus Angst, dass man ihr Geheimnis entdecken könnte, im elterlichen Garten verbuddelte. 1949, als Ingrid Noll vierzehn war, verließ ihre Familie China. Die politischen Verhältnisse im Reich der Mitte waren zu bedrohlich geworden. In Bad Godesberg besuchte sie, die vorher wie ihre drei Geschwister von den Eltern unterrichtet worden war, ein Mädchengymnasium und bestand 1954 das Abitur. Erst als ihre eigenen drei Kinder aus dem Hause waren, so steht es in ihrer Biografie des Diogenes Verlages in Zürich, hatte sie Zeit, sich wieder mit Lesen und Schreiben zu beschäftigen. Hatte doch jahrelang die Erziehung ihrer drei eigenen Kinder, das Führen eines großen Haushaltes und die Mitarbeit in der Praxis ihres Mannes, dem Arzt Peter Gullatz, ihr Zeitbudget so gut wie völlig ausgereizt.

Ingrid-Noll

Ingrid Noll, Krimiautorin, Weinheim

Die dreifache Mutter und vierfache Großmutter ist Familienmensch. Wenn ihre Enkel zu Besuch sind, zieht sie sich nicht in den Elfenbeinturm ihres Arbeitszimmers im ersten Stock zurück. Sie ist für sie da, ganz Oma, albert und spielt mit ihnen. Trifft man sie in ihrem gemütlichen Weinheimer Haus, das niemals eng wirkt, überkommt einen unwillkürlich das Gefühl, dass dieses Heim zu einem Ort geworden ist, dem man ohne lange zu überlegen die Eigenschaft zubilligt, längst die Atmosphäre des vielzitierten „genius loci“ auszustrahlen. Diese Umgebung, aber auch die Begegnungen und Beobachtungen des Alltags in Weinheim, in der Sparkasse, den Straßen und in den Läden haben Ingrid Noll zu zahlreichen Romanen und Kurzgeschichten inspiriert. Lebendig und fantasievoll gestaltet sie ihre Figuren und gibt ihnen ein teilweise skurriles, immer für Überraschungen gutes Eigenleben mit auf den literarischen Lebens- oder auch Todesweg. Und das Ableben ihrer Figuren kommt dann auch plötzlich, aber nicht unerwartet oder umgekehrt. Die Bücher von Ingrid Noll, es sind demnächst dreizehn Romane (der jüngste „Der Mittagstisch“ erscheint im August 2015) und Kurzgeschichten in zahlreichen Anthologien wurden mittlerweile in 25 Sprachen übersetzt. Ein Bilderbuch hat sie selbst in Verse gesetzt und illustriert. Und ist ein Ende der fantasievollen Schaffenskraft in Sicht? Das darf man sie eigentlich gar nicht fragen, denn sie entwickelt immer wieder neue Themen, Figuren, Lebensumstände zwischen Leben und Tod. Zufälle scheint es nicht zu geben.
Die Autorin sagte selbst einmal, ein Mord an einem langjährigen Ehepartner könne durchaus als Akt der Emanzipation verstanden werden. Ihre Figuren und deren Lebensumstände sind Abbilder eines ganz normalen Alltags mit Durchschnittsmenschen mit dunklen Abgründen. Selbst wenn viele ihrer Leser – selbst Literaturkritiker – ihr das Prädikat „Deutsche Patricia Highsmith“ verleihen, so trifft bei allem Respekt vor der amerikanischen Kollegin eher das Prädikat zu: Ingrid Noll ist die deutsche Ingrid Noll.
Doch bei allem schwarzen Humor und pointierter Fantasie, Ingrid Noll nimmt auch ernsthaft Stellung zu immer dringender werdenden Problemen unserer Tage: Pflegenotstand, wie gehen wir mit unseren Verwandten um, wenn diese nicht mehr in der Lage sind, sich um sich selbst zu kümmern, sich selbst zu versorgen, wenn sie zu Pflegefällen geworden sind? Wie werden es unsere Nächsten mit uns halten? Ingrid Noll hat ihre eigene Mutter bis zu deren 106. Lebensjahr gepflegt. Das bedeutete Einschränkungen räumlicher Natur, auch die Freizeitgestaltung, wie Urlaub oder Reisen, mussten sechzehn Jahre lang geplant und organisiert werden. Ein Stück Familientradition übrigens, denn schon ihre Mutter hatte sich pflegend um Ingrid Nolls Großmutter gekümmert, bis zum Alter von 105 Jahren. Für sich selbst und andere könnte sie Sterbehilfe akzeptieren, allerdings nur nach sorgfältigster Prüfung und willentlicher Erklärung eines Todkranken. Der Wunsch nach einem schmerzfreiem Tod und seine Erfüllung kann nur die letzte Bilanz eines Lebens sein, das keine Hoffnung auf einen besseren Zustand mehr zulässt. Das sagte Ingrid Noll in einem Interview, das sie anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Romans „Hab und Gier“ gab. Dieser Roman beginnt mit einer missglückten, weil verfrühten Sterbehilfe. Übrigens will sie von ihren eigenen Kindern nicht aus dem Leben gepflegt werden, weil sie ihnen die damit verbundenen Anstrengungen und Einschränkungen ersparen möchte. Ein paar Minuten nach diesen Worten ist sie wieder ganz die alte Ingrid Noll, von der wir gerne noch weitere Bücher erwarten.